Als Leopold Kohr am 6. Oktober 1970 die Rede „Das Ende Großbritanniens“ in der Conway Hall in London hielt, war es niemand geringerer als Fritz Schumacher, der in seiner Laudatio Kohrs Bedeutung gleich auf den Punkt bringt: „… ein Ökonom, der über die Ökonomie hinausblickt, sie durchschaut, sein Augenmerk über sie hinweg und hinter die Kulissen lenkt und der die Ökonomie mit Freuden in ihre Schranken weist.“ Und Schumacher beklagt, dass solch wertvolle Ökonomen in solch „schizophrenen Zeiten“ rar und meist unbemerkt blieben, Zeiten in denen unser Leben von einer einzigen Religion beherrscht werde „der Religion der Ökonomie“.
Die Grundüberzeugung war beiden gemeinsam: Die Ökonomie ist Teil des gesellschaftlichen Lebens des Menschen, nicht ihr alles beherrschender Despot. Die Ökonomie ist verantwortlich für die Existenzgründung und –sicherung des Menschen, d.h. die Begründung menschlichen Daseins durch Arbeit. Und so wichtig wie Arbeit ist, so ist es auch die Qualität der Arbeit, nicht nur Beschäftigung, sondern Herausforderung, Interesse, Kreativität, Wertschöpfung, Respekt und Anerkennung sind ihre wichtigen Attribute. Geht dieser kulturelle Wert und ihre Qualität verloren, bleibt nur mehr sinnentleerte Beschäftigung, „Jobs“, oder wie Schumacher so treffend bemerkt „Die Arbeit ist entmenschlicht worden, und noch so viel Opulenz während der sogenannten Freizeit kann diesen Verlust nicht kompensieren.“
Dass dieser Zug zur Entmenschlichung – er begleitet uns seit dem Pyramidenbau – immer und immer wieder die Menschen bedroht und wie eine epidemische Seuche befällt, ist, so Kohr, die Folge der maßlos gewordenen Größe von Einheiten. Und Schumacher stimmt zu „Die schlimmste Mythologie der modernen Wirtschaftswissenschaft ist die Mythologie der Größe; einer ihrer unumstößlichen Grundsätze lautet, dass groß wirtschaftlich und klein unwirtschaftlich ist.“
Damit bringt Schumacher schon in seiner Vorrede auf den Punkt, was Leopold Kohr dann in seinem Vortrag ausfaltet: „Das Ende Großbritanniens“ ist nicht gegen England gerichtet, sondern benennt das Ende „des Monsters der Größe, die alles erstickt.“ Und damit meint Kohr, das Ende eines Staatskonstruktes unter der theoretischen Vorgabe, dass nur die Größe wirtschaftlich sinnvoll sei, nicht die flexible Wirtschaftskraft der kleinen Einheiten. Denn natürlich würde das Ende Großbritanniens nicht das Ende von Yorkshire, Wales, Cornwall, Schottland, Dorset, Rutland, Westminster, Whitehall, Old Vic, Covent Garden heißen. „Das Einzige was fehlen würde, wäre das Monster der Größe, die sie alle erstickt.“
Hier wendet Kohr konsequent den Kern seiner Erkenntnisse an. Es geht eben nicht um die Schaffung des neuen Menschen, der neuen Nation, des neuen Staatenbundes, der endlich die Grundübel des Menschen, Krieg, Hunger, Armut und Not auslöscht. So realistisch ist Kohr, um diese utopischen Träumereien nicht fortzusetzen, da die Natur des Menschen ihn immer mit diesen Problemen konfrontieren wird, auch in Zukunft.
Das Ansinnen der Vereinten Nationen diese Zustände auszumerzen, ist gescheitert. Kohr geht es um die pragmatischen, die machbaren Visionen, es geht um die Verhinderung des großen Krieges, der massenhaften Armut, das Ausmaß der Arbeitslosigkeit. Und da widerspricht er den Ökonomien des Größenwahns vehement: „Die krebsartig wuchernden Prozesse der Gemeinschaftsvergrößerung und der internationalen Einigung haben bislang nur eines erreicht, nämlich die kleinen Probleme, die sich mit begrenzten Mitteln
bewältigen ließen, zu beseitigen, und stattdessen große Probleme zu schaffen, mit denen selbst die größten Mächte nicht fertig werden.“
Aus nüchterner Überlegung schlägt er deshalb seine Alternative vor: Verringerung der Größe, Zerschlagung krebsartig gewucherter Strukturen, Verringerung der Schwierigkeiten und Anpassung an die Fähigkeit des Menschen mit Schwierigkeiten fertig zu werden.
Und er spricht auch die zunehmende Technifizierung der Arbeit und der Gesellschaft insgesamt an. In großen Einheiten werden individuelle Personen gedemütigt, indem sie von Namen zu „fortlaufenden Nummern“ degradiert werden, „die ersonnen wurden, um dem binären Primitivismus des Computers zu dienen.“
Hier trifft sich Kohr wieder mit Schumacher: Es geht um Arbeit, um sinnvolle Tätigkeit, um erfülltes Menschsein in Produktivität, Schaffenskraft, Kreativität, nicht um monotones Nachahmen mechanisierter Prozessabläufe, wie sie Maschinen – und auch Computer sind nur Rechenmaschinen – viel effizienter leisten können. Damit gewinnen Kohrs „small is beautiful“ und Schumachers „mittlere Technologie“ beides Garanten sinnerfüllter und vor allem ausreichend vorhandener Arbeit, einen aktuellen Bezug:
Die aktuelle Tendenz, die Arbeit des Menschen überhaupt zu ersetzen durch Maschinen, durch computergesteuerte Mechanisierung und „künstliche Intelligenz“, fast aller Arbeitsbereiche. Die neue Ökonomie der (mathematischen) Spieltheorie, in der nur der misstrauische Egoist als Gewinner aufscheinen kann und Soziopathie zur gängigen Norm gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Denkens wird. Mit der Okkupation der gesamten Ökonomie durch die Mathematiker des „kalten Krieges“, die nach seiner Beendung alle arbeitslos geworden wären, dann aber von der Ökonomie beschäftigt wurden, ist das Rechnen und Berechnen, die Digitalisierung aller Gesellschaftsbereiche
Wirklichkeit geworden. Die Finanzmärkte haben sich auf diese „Spiele“ verlassen und verloren. Die Finanzkrise 2008 zwingt heute noch alle global vernetzten Märkte, ihre wahnwitzigen Verluste den BürgerInnen aufzuhalsen, die allesamt einen realen Einkommensverlust hinnehmen mussten, während das reichste Prozent mit kräftigen Gewinnen belohnt wurde.
Während über Jahrhunderte der technisch-industrielle Komplex die Fäden der Weltwirtschaft zog, sind diese Fäden nun in den Händen des „mathematisch-virtuellen Komplexes“ (Christian Felber) gebündelt. Und wie ein selbst konservativer Journalist, Frank Schirrmacher in seinem akribisch recherchierten Buch („EGO – Das Spiel des Lebens“) unmißverständlich und nüchtern darlegen konnte, geht es in dieser gegenwärtigen Ökonomie nicht mehr um Arbeit, oder um Menschen, um eine gerechtere Gesellschaft oder um ein friedliches, zukunftsfähiges Zusammenleben. Um all das, um was es wenigstens im Ansatz immer in der Menschheitsgeschichte gegangen ist, geht es jetzt nicht mehr. Es geht um die totale Digitalisierung der ganzen Welt, um die Berechen –
barkeit aller Abläufe, um die Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinen mit einem einzigen Ziel: dem maximalen Profit.
Dass dieses totalitäre Denken und die damit verbundene Maßlosigkeit nicht nachhaltig wirtschaften können, und deren Zukunftsfähigkeit ein sehr überschaubares Ablaufdatum haben, wird jedem vernünftig denkenden Menschen einleuchten. Und: es enthebt nicht von der Verpflichtung Alternativen anzudenken.
Kohrs Beispiele aus „Das Ende Großbritanniens“ geben Mut zur Hoffnung. Groß –
britanniens Regionen würden von der Aufteilung profitieren, kleine, überschaubare und weitgehend eigenständige Regionen wären nicht dem Monster der Größe ausgeliefert.
„Wachstum durch Aufspaltung“ würde von der Krankheit der Maßlosigkeit heilen, Handlungsfähigkeit, Flexibilität und Verantwortbarkeit würden Nachhaltigkeit sichern. Die dann sich ergebenden Mitgliedstaaten würden zur gemeinsamen Marktwirtschaft noch eine regionale hinzufügen, „die im Gegensatz zu Ersterer hauptsächlich auf den heimischen Markt ausgerichtet wäre. Sie wäre kleiner, was ihre Produktionseinheiten betrifft, nicht aber in Hinblick auf ihren Gesamtausstoß.“ Die Zukunft der Regionalökonomien
würde gestärkt.
„Kurz gesagt würde eine regionale Revolution politischer Souveränität vor allem eines bewirken: Sie würde alles Bestehende bewahren, aber dem, was heute nicht besteht, eine Menge hinzufügen und damit sowohl die Teile als auch das Ganze bereichern.“
Der „Zusammenbruch Großbritanniens“, Kohrs Rede aus dem Jahre 1970, macht
unmissverständlich deutlich, dass eine lebensfähige und nachhaltige Regionalwirtschaft unverzichtbar ist. Auf was sonst könnte man zählen, sobald der globalisierte Größenwahn zusammenbricht? (Quelle: Leopold Kohr Akademie)
Zur ganzen Rede von Leopold Kohr >