Um eine handvoll suspektes Gewebe los zu werden habe ich mich am 1. Juli 2010 eingefunden. Mit Eindrücken, Geschichten und Einsichten voll beladen kehrte ich heim und schlürfte gerade mal 9 Tage später meinen geliebten türkischen Kaffeee in Ali’s Kebab > zu Taxham. Zuvor durfte ich den Sepp kennenlernen, ein Tonwunder erleben und die Gastfreundschaft besonderer Menschen genießen.
Irgendwann nach der OP kehrten meine Sinne zurück und ich verstand allmählich wieder, was ich sah. Der Sepp lag nicht weit von mir. Rechts von ihm teilte ein hohes Kassettenfenster das grüne Blättergewirr des gegenüberliegenden Parks in 7 gleichzeitig ablaufende Filme. In einem erschien gerade ein koboldartiges Wesen, das den Mund auf und zu klappte und heftig mit den Augen rollte. In einem anderen formte das Wechselspiel von Licht, Schatten und Wind einen Elefanten mit hochaufgerichtetem Rüssel aus dem Blattwerk. Während das nach Mücken schnappende Baumwichtel von Film Nr. 6 auf Film Nr. 4 kletterte, regte sich plötzlich etwas unter der Decke des Nachbarbettes. Sepp erschien. Erst ein schlohweißes, von grauen Strähnen durchzogenes Haarbüschel, dann sein breit grinsendes, von 94 Lebensjahren zerfurchtes Gesicht.
Die Alten halten das Land zusammen
Aus Embach kommt er, einem Ortsteil der 1500-Seelen-Gemeinde Lend > im Salzburger Pinzgau >. Dort ist er seit fast 70 Jahren mit seiner Antonia zusammen. Sie war es auch, erzählte der Sepp, die ihm zum Zeichen der „Liab“ (Liebe) einen Bock „anzeigte“. Ihn für ihren Sepp in den Bergen aufspürte. Später sind dann beide los um ihn zu erlegen. Im Kriegs- und Revolutionsjahr 1917 geboren, 3 Tage nachdem der Ministerpräsident Alexander Kerenski die Russische Republik ausrief und gut einen Monat bevor die Tänzerin und Spionin Mata Hari vor einem Erschießungskommando in den Festungsanlagen des Schlosses Vincennes ihr Leben lassen musste. 18 Jahre später holte der Krieg den jungen Embacher. Gekämpft hat er weder für eine gerechte Sache, noch für Hitler. Nur für die 7 Leute seiner Gruppe, die er unbedingt im Ganzen heimbringen wollte. Das ist ihm auch gelungen. Auf den Gründen seines Anwesens haben sich vier Familienmitglieder angesiedelt und ihre Häuser gebaut. Ein starker Stamm sind sie und halten fest zusammen. Der Sepp ist ein zufriedener Mann. Gerade Leute haben Antonia und er auf die Welt gebracht. Das macht die Alten stolz und wie sie die Großfamilie durch gescheite Landverteilung in Eintracht am Ort halten konnten.
Lebenslust durchs Fenster
Wenn es dämmert und der Blätterkinovorführer seinen letzten Film einlegt, beginnen sich die Gassen der Salzburger Altstadt mit erlebnishungrigen BesucherInnen aus aller Welt zu füllen. Zu laut? Nichts da! Startende Flugzeuge, Presslufthämmer und Baumsägen, die sind laut. Heute sind sie noch zu wenig lebendig und einfühlsam, unsere Alltagsmaschinen, um uns zu inspirieren wie die ausgelassenen jungen Leute. Auch meinen Zimmergenossen und dem Sepp macht das lärmende Volk nichts aus. Was soll man auch im Augenblick mit der Stille. Ungestörter leiden etwa? Eines Abends hörte ich es zum ersten Mal in meinem Leben, den mächtigen Auftstand der Salzburger Kirchenglocken gegen die wachsende Säkularisierung der einst so frommen Stadt. Mit geschlossenen Augen, unvorbereitet, trifft mich das Klangereignis. In der Ferne rottet sich eine Schar Kirchenglocken zusammen, setzt sich wuchtig in meine Richtung in Bewegung und stürmt wie die Kavallerie Gottes Richtung Zimmer 126. Nein, nach Spiel klingen diese Glocken nicht. Sie meinen es ernst. In mächtiger Gemeinsamkeit lassen sie uns zu Zwergen schrumpfen. Eingeklemmt zwischen Banalität und Endlichkeit. Diese unmenschlichen Glocken. Ein Beben durchläuft die abendliche Hitzeagonie in der sich die Stadt seit dem späten Nachmittag befindet. Autolärm, krachende Poller und quietschende Teenager, die sich von ihren Freunden in die Büsche drücken lassen, alles saugt er auf, der mythische Klang, zerkleinert, vermischt und lässt sich auf die ehrwürdige Altstadt und seine Menschen nieder. Dann ein letzter heller Ton und – Stille.
Der Gastgeber reicht persönlich Tee
Das Konviktspital des Ordens der Barmherzigen Brüder > durchweht ein Geist der Mitmenschlichkeit und fachlichen Kompetenz. Auf allen Ebenen. Ein angenehmes Gefühl kommt auf, wie: es kann dir hier nichts passieren, egal was passiert. Von der freundlichen bosnischen Reinigungsfrau die mit stoischer Ruhe und der Präzision tausendfach eingeübter Handgriffe für Ordnung sorgt, der kroatischen Schwester die im bloßen Vorbeigehen Zuversicht verströmt bis zu den Ärzten, die glaubhaft auch die Person neben dem erkrankten Organ wahrnehmen. Alle, wirklich alle lassen eine federleichte Atmosphäre entstehen in die man versinken möchte ohne sich um den Ausgang Gedanken zu machen. Verstört denke ich: Habe ich soviel menschlichen und technischen Aufwand eigentlich verdient mit meinen kleinen Sozialbeiträgen als „Mickey Mouse Unternehmer“? Menschen, die sich von den Spielregeln der Schwarmkinder abwenden und ihr Leben auf spirituelle Weise leben haben etwas Überirdisches an sich. Wie die strahlende geistliche Schwester, die allen PatientenInnen das Rupertiblatt > anbietet oder der hagere Ordensbruder Frater Edmund, der von Leid und Verlegenheit unbeirrt den Kranken seine Aufmerksamkeit schenkt. Mal bringt er Tee, mal rüttelt er das Kissen auf, oder fragt einfach nach besonderen Wünschen. Seltsam mit welchem Stolz er es tut. „Glockenblumen“ sagt er plötzlich und wendet dadurch meinen Blick auf die Blumenvase am Nachttisch von Sepp. Ohne seinen Hinweis habe ich lediglich einen blauen Farbwischer wahrgenommen. Nichts was mir, dem Farben- und Formenverwöhnten außergewöhnlich erschien. Jetzt aber schaue ich genauer hin und sehe diese zarten, tiefblauen Blütenkelche. Es zieht und reißt in mir, so schön kommen sie mir vor.
Der Sepp geht heim
Endlich lässt ihn der Doktor gehen. Ganz gesund ist er nicht mehr geworden. Aber Dank moderner medizinischer Hilfsmittel so gut wie. Er darf den Sommer wieder auf einem seinem Hausbankerl verbringen. Den Jungen beim Wachsen zuschauen und in den Himmel über Embach blinzeln, ob denn ein Wetter aufzieht. Den Donner wird er nicht mehr so bald hören wie früher. Aber’s Blitzen, das sieht er genau. So wie er die Zeitung lesen kann. Ohne Augengläser. Der Sepp kommt an mein Bett und sagt: „Pfiati!“, dabei grinst er vergnügt und läuft seiner Enkelin, der Konditorin, nach, die ihn abgeholt hat. Wir haben nicht viel geredet. Pinzgauer reden sowieso kein einziges Wort zuviel. Aber der kehlige Dialekt hat mir gefallen. Besonders bei Antonia, seiner Frau, die einmal auf Besuch war. Da gibt es kein vielleicht oder irgendwie oder fast, sondern genau das, worum es geht. Punkt. Am 5. September feiert der Sepp seinen 94. Geburtstag. Da kriegt er eine Glückwunschkarte von mir. So viele Jahre, so zufrieden mit seinem Leben. Was für ein Geschenk, so einem Menschen begegnen zu dürfen. Ausgerechnet im Krankenhaus, einem Ort, wo Verzweiflung, Schmerz, Hoffnung und Hadern mit seinem Schicksal so nahe beeinander liegen. (Fotos von kama)